Wer Gott im Kopfe weiss, der wird ein Atheist

Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf zum 300. Geburtstag


Er war eine der umstrittensten Gestalten seiner Zeit. Auf der Höhe seines Lebens, in den beiden Jahrzehnten zwischen 1735 und 1755, sind nahezu vierhundert Streitschriften über ihn und sein Wirken publiziert worden. Gotthold Ephraim Lessing brach in seinen "Gedanken über die Herrnhuter" eine Lanze für ihn: "Wenn unsre Theologen aufrichtig sein wollen, so werden sie gestehen muessen, daß er sich nie zu einem Religionsverbesserer aufgeworfen hat." Johann Gottfried Herder faßt rückblickend zusammen: "Nikolaus Ludwig Graf und Herr von Zinzendorf ging im Jahr 1760 als ein Eroberer aus der Welt, desgleichen es wenige, und im verflossenen Jahrhundert keinen wie ihn gegeben hat." Johann Wolfgang von Goethe nicht zu vergessen. "Seit meiner Annäherung an die Brüdergemeine hatte meine Neigung zu dieser Gesellschaft, die sich unter der Siegesfahne Christi versammelte, immer zugenommen", erinnert sich Goethe in "Dichtung und Wahrheit" an seine Frankfurter Jugendjahre. "Es wäre nur auf sie angekommen, mich zu dem Ihrigen zu machen."

Die Kirche hat sich mit diesem Eroberer, diesem Unruhegeist, der auf Evangelisationsfeldzuegen quer durch die Lande zog, Freundeskreise sammelte und Gemeinen bildete, schwer getan. Sie hat ihn als Schwärmer und Sektengründer erbittert bekaempft. Die Pietisten, von denen er herkam, sahen in ihm einen Hasardeur und Abtrünnigen. Einige sprachen ihm sogar das Christsein ab, hatte er doch kein Bekehrungserlebnis vorzuweisen. "Abriss der sogenannten Brüdergemeine" - bewusst wählte der schwäbische Pietistenpatriarch Johann Albrecht Bengel diesen zweideutigen Titel, als er gegen Zinzendorf und die Duldung der Herrnhuter in Württemberg schrieb.

Längst ist es ruhig geworden um Zinzendorf. Die evangelische Kirche hat ihren Frieden mit ihm gemacht. Zinzendorfs "Losungen", ein jährlich neu zusammengestelltes Andachtsbuch mit Bibelsprüchen und Liedversen für jeden Tag, sind heute Gemeingut der protestantischen Christenheit. Die Lieder des Grafen ("Herz und Herz vereint zusammen", "Jesu geh' voran" u. a.) hat die Kirche längst ins Evangelische Gesangbuch aufgenommen, wie sie auch mit anderen Pietisten, die zeitweilig oder auf immer der Kirche den Rücken kehrten, ihren Frieden geschlossen hat. Auch die Lieder von Gottfried Arnold ("O Durchbrecher aller Bande"), der die Kirche mit dem widergöttlichen Babel gleichsetzte und aus dessen Schriften Zinzendorf lernte, die gegenwärtige Christenheit am Ideal der Urchristenheit zu messen, und dem Frankfurter Juristen Johann Jakob Schütz ("Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut"), der sich um die Verbindung der wahrhaft Frommen in allen Konfessionen mühte und dem nach seinem Tod die kirchliche Beerdigung versagt wurde, stehen im Gesangbuch. Von der Brüdergemeine, die in Deutschland heute eng mit der evangelischen Kirche verbunden ist, erwartet niemand mehr eine Gefährdung. Allerdings auch kaum den Anstoss zu kirchlicher Erneuerung, der ursprünglich mit ihrer Gründung verbunden war.

Asyl für die Nachfahren der "Mährischen Brüder"

Der aus einem österreichischen Adelsgeschlecht stammende Zinzendorf, dessen Vorfahren um ihres protestantischen Glaubens willen die Heimat verlassen hatten, war als Sohn eines sächsischen Staatsministers in Dresden geboren. Er empfing seine Schulbildung im Pädagogium Regium in Halle, einer Pflanzstätte für die pietistische Erziehung junger Adliger und vornehmer Bürgersoehne. Als Ranghöchster sass der junge Reichsgraf jahrelang bei Tisch neben dem Pietistenvater August Hermann Francke, der ihn gern als Mitarbeiter für seine weltweite Reich-Gottes- Arbeit gewonnen haette. Da ihm die Familie das Theologiestudium versagte, musste er an der Universität Wittenberg Jura studieren. Nach der obligatorischen Bildungsreise, die ihn über die Niederlande bis Paris fuehrte, trat er in Dresden in den sächsischen Staatsdienst, den er aber nach wenigen Jahren quittierte. Was war der Grund? Zinzendorf hatte vor der Gegenreformation aus den habsburgischen Landen entwichenen Glaubensflüchtlingen auf seinem Gut Berthelsdorf in der Oberlausitz Asyl gewährt. Dort hatten sie, Nachfahren der aus dem Hussitentum stammenden "Mährischen Brüder", 1722 die Siedlung Herrnhut gegründet. Doch waren sie untereinander und mit der lutherischen Landeskirche, in die sich die Mähren nicht einfügen wollten, in Streit geraten. Zinzendorf gab den Staatsdienst auf, um sich der auf eigenem Grund und Boden entstandenen Unruhe unter den Mähren anzunehmen. Er sollte sein ganzes Leben an die Mähren gebunden bleiben.

Dem unermüdlichen seelsorgerlichen Bemühen um jeden Einzelnen, aber auch der unwiderstehlichen Überzeugungskraft des Charismatikers Zinzendorf - einen "sieghaften Menschenbezauberer" hat ihn Ernst Troeltsch genannt - gelang es, Frieden unter den Brüdern zu stiften und sie zu einer engen Gemeinschaft zusammenzuschmieden. Eine gemeinsame Abendmahlsfeier am 13. August 1727 brachte ein überwältigendes Gemeinschaftserlebnis. Zinzendorf und die Brüder erblickten darin ein neues Pfingsten, die Geburtsstunde der "Brüdergemeine".

Das nach 1727 in Herrnhut aufbrechende religiöse Leben ist in der Geschichte des Protestantismus einzigartig. Warteten andere pietistische Gruppen, sich durch asketisch frommes Leben vorbereitend, auf die Wiederkunft Christi, so wussten sich die Brüder, zeitweise in einem schwärmerischen Enthusiasmus, mit dem "Heiland" bereits in unmittelbarem Herzenskontakt verbunden. Die Gemeine traf sich taeglich zu Sing- und Betstunden, es entstand eine reiche Lieddichtung. Neue Gottesdienstformen wurden entwickelt und neue seelsorgerliche Praktiken erprobt (Kleingruppenarbeit in "Banden" und "Choeren"). Auf dem Weg zur neuzeitlichen "Individualisierung" - so sieht man es heute in der Geschichte der Pädagogik - ein gewaltiger Schritt nach vorn.

Zinzendorf gab Herrnhut "Statuten", die sich formal an althergebrachte Oberlausitzer Ortsordnungen (Ruegens, Willkuer) anlehnten, inhaltlich das Leben der Gemeine nach dem Vorbild der urchristlichen Gemeinden gestalteten. Mit einer Vielzahl von Laienaemtern wurde das "allgemeine Priestertum der Glaubenden" realisiert, wie es Philipp Jakob Spener in seinen "Pia Desideria", der Programmschrift des Pietismus, gefordert hatte. Herrnhut wuchs, durch Zuzug weiterer Brüder aus Mähren und Boehmen, aber auch mancher mit ihrer Kirche zerfallenen Frommen aus anderen Teilen Deutschlands, binnen weniger Jahre zu einem stattlichen, mehrere hundert Koepfe zaehlenden religiösen Zentrum, einem pietistischen Jerusalem. "Jede positive Religion hat ihren groessten Reiz, wenn sie im Werden begriffen ist; deswegen ist es so angenehm, sich in die Zeiten der Apostel zu denken, wo sich alles noch frisch und unmittelbar geistig darstellt, und die Brüdergemeine hatte hierin etwas Magisches, daß sie jenen ersten Zustand fortzusetzen, ja, zu verewigen schien." Besser als Goethe in "Dichtung und Wahrheit" kann man die eigentuemliche Faszination, die von Herrnhut auf die Zeitgenossen ausging, nicht beschreiben.

Eine neue Kirche wollte Zinzendorf nicht gründen. Sorgsam war er bedacht, Herrnhut mit der Gemeinde Berthelsdorf zu verknüpfen, somit in die sächsische Landeskirche zu integrieren. Die Brüdergemeine sollte ein Kirchlein in der Kirche sein, eine ecclesiola in ecclesia im Sinne Speners, Zinzendorfs Taufpaten. Von der Bildung solcher Kerngemeinden, die wie ein Sauerteig das groessere Ganze durchsaeuern sollten, hatte der Begründer des Pietismus die Erneuerung der Volkskirche erhofft. Wie Zinzendorf sich einmal ausdrückte, wollte er der kraftlosen und nach seinem Empfinden fast toten Kirche seine lebendige Gemeine auf den Schoss setzen, in der Erwartung, daß dadurch auch bei ihr sich die Lebenskraefte regen wuerden.

Es kam anders. Die Kirche witterte Sektierertum. Zinzendorf wurde aus Sachsen ausgewiesen. Die Toleranz kleiner westdeutscher Grafenhoefe in Anspruch nehmend, verlegte er die Operationsbasis der Brüdergemeine für lange Jahre in die hessische Wetterau. Der Selbststaendigkeitsdrang der Brüder, die stolz waren, ihre von der Gegenreformation zertretene Gemeinschaft wieder begründet zu sehen, tat ein Übriges. Sie liessen gegen den Willen des Grafen in Brandenburg-Preussen die Mährischen Brüder als vierte christliche Konfession neben Lutheranern, Reformierten und Katholiken anerkennen. Schliesslich hat der weltumspannende, die Brüder mitreissende Missionsdrang des Grafen die Energien der Herrnhuter in andere Richtung gelenkt. Zinzendorf wurde kein Kirchenreformer. Es entstand eine Freikirche, die einzige groessere Freikirche, die das Luthertum hervorgebracht hat. Zinzendorf, der in seinem letzten Lebensjahrzehnt seinen Wohnsitz zeitweilig in London nahm, hatte schliesslich Anhänger und Gemeinen bis hinauf nach Lappland und im Baltikum, in Nord- und Mittelamerika, ja selbst in Äthiopien und Persien. In seiner "Brüdergemeine" ging die Sonne niemals unter. Ja, sie geht bis heute in ihr nicht unter. Während andere Gruppenbildungen des Pietismus längst vergessen sind, lebt die Brüdergemeine in alle Weltteile zerstreut bis zum heutigen Tag. Ihre Mitgliederzahl ist in der Dritten Welt um vieles groesser als in ihrem Ursprungsland.

In den Containern einer meterlangen Reprintausgabe sind Zinzendorfs Schriften unlängst in unsere Bibliotheken transportiert worden. Er war ein Vielredner. Eine "geistliche Maschine, die ganze Tage und Naechte von Gott plaudern kann", nannte ihn der zeitweilig in seinen Bann geratene Freigeist Johann Konrad Dippel. Er war auch ein Vielschreiber. Wie bei allen Charismatikern geben die gedruckten Reden nur ein unvollkommenes Bild seiner Persoenlichkeit. Lohnt die Beschaeftigung mit diesem Menschenbezauberer? Lohnt heute noch ein Studium seiner Schriften?

Die barocke Sprache, das gefuehlige Versenken des gläubigen Herzens in Blut und Wunden Jesu, der Kult mit Jesu Seitenhoehle, Worte wie "Kreuzluftvoegelein" und "Suendenwuermlein" wirken geschmacklos, stossen ab. Sein rheinischer Zeitgenosse Gerhard Tersteegen scheint uns mit seiner einfachen und klaren Mystik näher zu stehen. Doch wer immer sich mit Zinzendorf beschaeftigt, wird von ihm, von seiner schoepferischen Originalität und dem Einfallsreichtum seiner Ideen - wenn im Raum der Religion die Kategorie des "Genies" überhaupt angebracht ist, dann hier - noch heute fasziniert. Im Universitätsunterricht kann man die Erfahrung machen, daß kein anderer Pietist die akademische Jugend so zu fesseln vermag wie er. Dieser Eroberer, dieser "ins Zeitalter der Sentimentalität verschlagene Kreuzritter" - auch dies eine Charakterisierung von Ernst Troeltsch -, der jedes Jahr in einem anderen Land zu finden ist, der zweimal Nord- und Mittelamerika bereiste, hat nicht nur aeussere Grenzen überwunden. Er hat, seiner Zeit weit vorauseilend, Schranken niedergerissen, die ihre trennende Wirkung teilweise bis heute nicht verloren haben. Schranken zwischen den christlichen Konfessionen, zwischen den Geschlechtern, den Völkern, Rassen und Weltanschauungen.

Luthrisch, Paepstisch, Calvinisch

Der als Religionskrieg zwischen Katholiken und Protestanten begonnene Dreissigjährige Krieg lag für Zinzendorfs Generation so weit zurück wie für heute Geborene der Zweite Weltkrieg. Doch weiterhin standen sich in der europaeischen Christenheit drei feindliche, sich theologisch heftig bekaempfende Religionsparteien gegenüber. "Luthrisch, Paepstisch und Calvinisch - diese Glauben alle drei sind vorhanden, doch ist fraglich, wo das Christentum denn sei", hatte Friedrich von Logau gedichtet. Die Hugenotten, aus dem katholischen Frankreich vertrieben, wurden in Brandenburg-Preussen vom Grossen Kurfürsten als Glaubensbrüder willkommen geheissen, fanden aber bei den lutherischen Gemeinden nicht die Liebe und Unterstützung, wie sie den aus Salzburg vertriebenen Lutheranern entgegengebracht wurde. Im lutherischen Hamburg zerstoerten Volksmassen 1719 den ersten katholischen Kirchenbau (die der Stadt auferlegten Strafgelder verwandte der Kaiser zum Bau der Karlskirche in Wien, des schoensten sakralen Barockbaus der Stadt). Als Zinzendorf 1738 seine "Berliner Reden" hielt, gab es in der Hauptstadt des protestantischen Preussens wohl eine Synagoge, aber kein Gotteshaus für die Katholiken.

Der Pietismus suchte mit der Betonung der Herzensfroemmigkeit und ihrer Bewährung in einem tätigen christlichen Leben aus der konfessionellen Konfrontation herauszukommen. Zinzendorf war erzogen worden von seiner mit Spener befreundeten Grossmutter, der sprachenkundigen und mit vielen Gelehrten in Briefwechsel stehenden Henriette Katharina von Gersdorf. "Ich habe meine Principia von ihr her", hat er später gestanden, "sie wusste keinen Unterschied zwischen der catholischen, lutherischen und reformierten Religion, sondern was Herz hatte und an sie kam, das war ihr Naechster."

Auf seiner Bildungsreise schloss Zinzendorf mit dem Erzbischof von Paris, Antoine de Noailles, eine religiöse Freundschaft, "da wir denn ein halb Jahr mit himmlisch vergnuegten Herzen beisammen waren und uns nicht mehr besannen, was für einer Religion einer oder anderer wäre". Das war Pietismus pur. Zwar brach Zinzendorf den Kontakt ab, als der Erzbischof, der dem Jansenismus anhing, einer in der Gnadenlehre dem Protestantismus verwandten Glaubensrichtung, sich dem Papst unterwarf, der in der Bulle "Unigenitus" (1719) den Jansenismus verdammte. Doch knüpfte er ihn später wieder an in der Gewissheit, daß die konfessionellen Unterschiede nicht bis zum "Herzen" dringen.

In den verschiedenen Konfessionen sah Zinzendorf keine sich ausschliessenden Gegensaetze, sondern verschiedene Erziehungsweisen (Tropoi), deren Gott sich bedient, um die Menschen zur Seligkeit zu fuehren. Die Brüdergemeine wollte ein Abbild der einen, heiligen Kirche sein. Eine vorweggenommene, wenn auch in der Praxis bloss innerprotestantische Ökumene. Man suchte nicht die bestehenden Konfessionen abzuschaffen. Man blieb lutherisch, reformiert oder mährisch. Die jeweiligen Bekenntnisse wurden gleichberechtigt anerkannt. Aber unter denen, die Jesus Christus als ihren Heiland annahmen, hatten die Lehrunterschiede ihren Kirchen trennenden Charakter verloren. Keine die konfessionellen Profile abschleifende Konsumoekumene, sondern versoehnte Verschiedenheit. Zinzendorf fuehrte sogar das Bischofsamt ein, jedoch nur als Seelsorge- und Weiheamt. Der Bischof erhielt keinerlei kirchenregimentliche Gewalt, ja, er wurde ausdrücklich dem Ältestenamt untergeordnet. Vielleicht ein Modell, mit dem man einmal das schwierigste oekumenische Problem, das des Papstamtes, wird lösen koennen.

Aus der Tradition der Glaubensflüchtlinge übernahm Zinzendorf den Namen "Brüdergemeine". Doch die Ämter in der Gemeine waren von Anfang an für beide Geschlechter eingesetzt. Während sonst zu dieser Zeit Frauen wenig zu sagen und nirgendwo Zugang zu oeffentlichen Ämtern hatten, gab es in Herrnhut Ältestinnen, Lehrerinnen, Aufseherinnen, Helferinnen, Ermahnerinnen. Daß die Frau in der Gemeinde zu schweigen habe, sei ein oft missbrauchtes Bibelwort, meinte Zinzendorf. In der Bibel stuende auch anderes. Man koennte ihn zu den Vaetern der feministischen Theologie zaehlen. So stiess er sich daran, Gott für maennlich zu halten. Die dritte Person der Gottheit sei weiblich, der Heilige Geist habe ein Mutteramt. In barocker Sprachspielerei wollte er lieber von der "Geistin" als vom "Geist" reden. Die Christen muessten eigentlich "Christinnen" heissen, meinte er. Eigentlich seien sie alle weiblich, da ja Christus der Braeutigam und die Kirche die Braut sei.

Dann die Schranken des Hasses und der Verachtung, die Christen gegen die Juden aufgerichtet haben. Unter Zinzendorfs Schriften findet sich eine mit dem Titel "Sonderbare Gespräche zwischen einem Reisenden und allerhand anderen Personen" (1735). Zinzendorf hat sie entworfen, als er, um das Odium eines unberufenen Laienpredigers loszuwerden, sich gerade nach bestandenem theologischen Examen zum lutherischen Geistlichen hatte ordinieren lassen. Eine lockere, man möchte meinen, für eine Theaterbühne gedachte Szenenfolge, in der ein "Reisender", hinter dem sich Zinzendorf selbst verbirgt, Gespräche über aktuelle Themen fuehrt. Eins der Gespräche ist dem Umgang mit den Juden gewidmet. Seinen Wirt, der alle Juden für Betrüger haelt, sucht der Reisende von seinen Vorurteilen abzubringen. Doch nicht nur Toleranz predigt er ihm. Eine "ungemeine Hochachtung vor den Juden" sollen die Christen bezeugen. Der Reisende benennt dafür eine ganze Reihe von Gründen: Die Christen haetten den groessten Teil der Heiligen Schrift durch die Juden, die Juden seien der Same von unserem geistlichen Vater Abraham und wir Christen seien nur eingepfropft, den Christen sei im Neuen Testament verboten, sich vor anderen zu rühmen, schliesslich haetten die Juden mehrenteils eine Ehrerbietung vor Gott und einen Respekt vor seinem Gesetz, woran es den meisten Christen fehle. Doch an erster Stelle beruft er sich auf Luther: "Ist ein einiger Jude, um deswillen (schreibt D. Luther an den Juden Jesel) soll man alle Juden lieb haben."

Daß ein lutherischer Prediger für die Juden eintritt und Judenhaß bekaempft, ist nicht so auffällig, wie es uns heute scheinen möchte. Der zu Zinzendorfs Lebzeiten bedeutendste lutherische Theologe, der an der Universität Halle lehrende Siegmund Jakob Baumgarten, verfaßte 1745 ein "Theologisches Gutachten von gewissenhafter Duldung der Juden und ihres Gottesdienstes unter den Christen". Darin finden sich ähnliche Mahnungen. Nach Baumgarten stehen vor allem die Protestanten, die nach ihrer Lehre allen Gewissenszwang missbilligen und verabscheuen, "unter der Verpflichtung, ihren Abscheu gegen die Gewalttätigkeiten, die den Juden in der Christenheit zugefügt worden sind, auf tätige Weise darzutun". Baumgarten schrieb sein Gutachten für die jüdische Gemeinde in Fuerth. Nicht selten wandten sich jüdische Gemeinden aus den verschiedensten Teilen Deutschlands mit der Bitte um gutachterlichen Beistand an die vom Pietismus geprägte Theologische Fakultät Halle. Soweit wir sehen - eine neuere Untersuchung ist dem nachgegangen -, haben sie ihre Bitten nicht vergeblich vorgetragen.

Luther, der Protestantismus und die Juden

Auffällig ist also nicht, daß ein Pietist sich für die Juden einsetzt. Auffällig ist, daß er sich dafür auf Luther beruft. In Luthers Brief an Josel von Rosheim, den Sprecher der deutschen Judenheit, finden sich die Worte, die ihm Zinzendorf zuschreibt, allerdings nicht. Sie finden sich ähnlich in Luthers Schrift "Daß Jesus ein geborene Jude sei", einer Schrift aus der Frühzeit der Reformation, an der sich der deutsche Protestantismus seit den Zeiten des Pietismus und der Aufklärung orientiert hat, Luthers späte Judenschriften der Vergessenheit anheim gebend, aus der sie erst die modernen Antisemiten wieder hervorholten. Zinzendorf kannte nur den die Christen zum freundlichen Umgang mit den Juden ermahnenden Luther. Einen anderen Luther kannte der Pietismus nicht, man kann wohl sagen, kannte der Protestantismus des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts nicht. Hat Heinrich Heine, der Luther als geistigen Befreier preist, von Luthers späten Judenschriften gewusst? Noch Dietrich Bonhoeffer, der nach den ersten Judenverfolgungen im Frühjahr 1933 als Einziger für die Juden eintrat, hat sich hierfür auf Luther berufen. Wie sein kürzlich verstorbener Biograf mit Verwunderung vermerkt, war ihm "der heute so geläufig gewordene antijüdische Luther einfach kaum begegnet".

Dann die Schranken des Rassismus. Die von Herrnhut ausgehende Missionstätigkeit der Brüder war im Unterschied zu der vorausgehenden Missionstätigkeit katholischer Orden, aber auch zu den gleichzeitigen Anfängen protestantischer Heidenmission keine vom Staat, von der Kolonialmacht gefoerderte Mission. Unter schweren Opfern an Menschenleben haben die Herrnhuter Brüder in vielen Weltteilen missioniert. An eine Christianisierung der Welt war nicht gedacht. Es sollten nicht Völker bekehrt, sondern "Erstlinge" für Christus gewonnen werden. Das sei für die gegenwärtige Weltzeit bis zur Wiederkunft Christi genug. Nur wer die Taufe begehrte, wurde getauft. In Amerika nahmen sich die Brüder der zur Arbeit auf den Plantagen versklavten Schwarzen an. Die weissen Pflanzer waren mehr als unwillig, wenn ihren wie Tiere behandelten Arbeitskraeften von den Brüdermissionaren beigebracht werden sollte, bessere Christen als sie selbst zu sein. Bezeichnend eine Episode auf der Insel St. Thomas in der Karibik, wo die Apartheid zwischen den Rassen von calvinistischen Geistlichen mit der Bibel und der Praedestinationslehre begründet wurde. Im Widerspruch dazu liessen sich die Brüdermissionare so eng mit den schwarzen Sklavenarbeitern ein, daß man sie wegen Störung der oeffentlichen Ordnung ins Gefängnis warf. Einer von ihnen hatte sich am schlimmsten vergangen. Er hatte eine Mulattin geheiratet, die die Kerkerhaft teilen musste. Zinzendorf, zu dieser Zeit gerade nach St. Thomas kommend, konnte ihre Entlassung bewirken. Den Dienst habenden weissen Offizier, Repräsentanten der Kolonialmacht, brüskierte er, indem er sich vor der aus dem Gefängnis herausgefuehrten Mulattin verneigte und sie ritterlich mit einem Handkuss begrüsste. Einzigartig in der Missionsgeschichte das berühmte "Erstlingsbild", das der Maler Valentin Haidt 1747 malte und das sich in der Brüdergemeine in Zeist/Niederlande befindet. Es zeigt Christus, umringt von den ersten Bekehrten der verschiedenen Missionsfelder. Man sieht meist dunkelfarbige Maenner und Frauen aus vielen Völkern und Rassen: Kreolen, Indianer, Eskimos, Hottentotten, auch ein Zigeunermädchen ist dabei.

Schliesslich hat Zinzendorf auch dem Gegensatz zwischen Christentum und Atheismus seine Schaerfe genommen. Im Kampf gegen die radikale Aufklärung mühten sich die Theologen aller grossen Konfessionen um die Widerlegung des Atheismus als des gefährlichsten Gegners des Christentums. Auch auf protestantischer Seite knüpfte man wieder an die mittelalterliche Tradition der Gottesbeweise an. Man konnte sich nicht genug darin tun, aus der Ordnung der Natur, selbst aus den Muscheln und Schnecken, auf einen weisen Schoepfer zu schliessen. Zinzendorf hielt von dieser Apologetik nichts. Die Existenz Gottes rational beweisen zu wollen kann nach ihm nicht zum Glauben fuehren. "Wer Gott im Kopfe weiss, der wird ein Atheist." Nicht der Gottesglaube, sondern der Atheismus entspricht nach Zinzendorf der natuerlichen Anlage der menschlichen Vernunft. Indem er Gott nur in Jesus Christus fand, unterlief er den Gegensatz von Theismus und Atheismus. Mit Vergnuegen und Sympathie las er die Schriften der Aufklärer. "Ohne Jesus wäre ich Atheist." Der in der Brüdergemeine aufgewachsene Friedrich Schleiermacher hat in seinen bekannten "Reden über die Religion" von 1799, in denen er sich um eine Neufundamentierung religiöser Gewissheit müht, die Ideen von Gott und Unsterblichkeit gegenüber der Aufklärung niedriger gehängt: "Auch gab es unter wahrhaft religiösen Menschen nie Eiferer, Enthusiasten oder Schwärmer für das Dasein Gottes; mit grosser Gelassenheit haben sie das, was man Atheismus nennt, neben sich gesehen, und es hat immer etwas gegeben, was ihnen irreligiöser schien als dieses." Schleiermacher, der sich selbst einen "Herrnhuter höherer Ordnung" genannt hat, blickt hier auf Zinzendorf.

Zinzendorf - eine der originellsten Gestalten der Christentumsgeschichte. Er kam aus dem Pietismus, blieb ihm lebenslang verbunden und wurde doch dessen Überwinder. Je mehr die Gestalt Jesu in den Mittelpunkt seiner Froemmigkeit trat, desto deutlicher entfernten er und seine Gemeine sich vom pietistischen Heiligungsstreben, desto mehr näherte er sich Luther und der reformatorischen Rechtfertigungslehre mit ihrem "gerecht und Suender zugleich". Schliesslich konnte er sagen: "Mit der lutherischen Religion haben wir eigentlich keinen Streit, aber vom Pietismus sind wir direkt das Oppositum." Luthers Mahnung, das Evangelium sei wie ein fahrender Platzregen, der nicht wieder dahin kommt, wo er einmal war, hat Zinzendorf auf seine Weise aufgenommen. "Vielleicht wenn alle die Lande, darinnen die Christen jetzt wohnen, ganz wieder zu Heidentum geworden sind: alsdann wird die Stunde von Africa, Asia und America kommen." Das spoettische Laecheln seiner Zeitgenossen über solche Worte ist uns inzwischen wohl vergangen.

Am Freitag vor 300 Jahren, dem 26. Mai 1700, wurde Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf geboren. Begraben ist er auf dem Gottesacker der Brüdergemeine in Herrnhut in der Oberlausitz, am aeussersten Ende des heutigen Freistaats Sachsen, da, wo deutsche, polnische und tschechische Grenzen aufeinander treffen.

aus der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.05.2000